Anspruch auf Entschädigung nach § 642 BGB: Wann Bauunternehmen auf ganzer Linie liefern müssen
Verzögerungen im Bauablauf gehören zum Alltag der Branche. Doch wenn es um die rechtliche Geltendmachung von Entschädigungen geht, sind die Anforderungen hoch – mitunter zu hoch, wie die Entscheidung des OLG Celle vom 24.06.2022 (Az. 14 U 27/22) in Verbindung mit der Zurückweisung der Nichtzulassungsbeschwerde durch den BGH (Beschluss vom 15.05.2024 – VII ZR 147/22) zeigt.
Die Quintessenz: Wer einen Entschädigungsanspruch gemäß § 642 BGB durchsetzen will, muss eine lückenlose, detaillierte Dokumentation des geplanten und tatsächlichen Bauablaufs samt Personaleinsatz vorlegen – oder scheitert.
Der rechtliche Hintergrund: § 642 BGB und seine Anforderungen
§ 642 BGB gewährt dem Auftragnehmer eine Entschädigung, wenn der Auftraggeber erforderliche Mitwirkungshandlungen unterlässt und sich dadurch der Bauablauf verzögert. Das klingt zunächst einfach – ist es aber nicht.
Nach ständiger Rechtsprechung muss der Auftragnehmer detailliert darlegen:
- Wie war der Bauablauf konkret geplant (Leistungen, Zeitfenster, Personaleinsatz)?
- Wie verlief der tatsächliche Bauablauf?
- Welche konkreten Störungen traten wann auf?
- Welche Auswirkungen hatten diese auf den Bauablauf?
- Gab es Ausweichmöglichkeiten (z. B. Vorziehen anderer Arbeiten, Umverteilung von Personal)?
Das OLG Celle bezeichnete dies sinnbildlich als das „ganz große Orchester“, das der Anspruchsteller spielen muss – andernfalls wird die Klage abgewiesen.
Warum diese Anforderungen für Ingenieurbüros relevant sind
Für Ingenieur:innen, insbesondere im Bereich der Bauleitung, Terminplanung und Projektsteuerung, ergeben sich daraus zentrale Konsequenzen:
- Dokumentation wird zum Schlüssel
Ohne laufende, taggenaue Bauzeiten- und Personaleinsatzplanung droht im Streitfall der Beweisnotstand. Excel-Listen reichen nur dann, wenn sie lückenlos und aussagekräftig sind. - Vertragliche Klarheit schaffen
Bereits in der Planungs- und Vergabephase sollten Verträge und Bauzeitenpläne so gestaltet sein, dass Abhängigkeiten, Mitwirkungspflichten und Pufferzeiten transparent werden. Das reduziert spätere Unklarheiten bei der Frage, wer welche Verzögerung zu verantworten hat. - Nachträge und Behinderungsanzeigen rechtssicher vorbereiten
Ingenieurbüros sollten Auftragnehmer bei der Dokumentation unterstützen oder selbst entsprechende Behinderungsanzeigen erstellen. Ohne fundierte bauablaufbezogene Darstellung verliert ein Nachtrag schnell seine rechtliche Durchschlagskraft. - Risikoabwägung in der Bauüberwachung
Die Entscheidung zeigt auch: Die Gerichte prüfen sehr genau, ob der AN wirklich nichts hätte tun können – etwa durch Umverteilung von Ressourcen. Die technische Machbarkeit muss deshalb parallel zur rechtlichen Argumentation geprüft und dokumentiert werden.
Kritik an der Rechtsprechung – und Chancen für die Praxis
Die im Beschluss angedeutete Forderung nach einer vollumfänglichen Darstellung der gesamten Bauorganisation wirkt überzogen – insbesondere in Fällen, in denen eine Störung offensichtlich nicht durch Ausweichmaßnahmen abgefedert werden konnte (z. B. Bombenfund auf der Baustelle).
Hier könnte sich für Ingenieure eine beratende Rolle eröffnen: Durch präzise Formulierungen in Nachträgen, die Einzelfallumstände nachvollziehbar darstellen und auf die Unvermeidbarkeit hinweisen, lässt sich möglicherweise auch ohne "großes Orchester" eine plausible Anspruchsgrundlage schaffen.
Wer Ansprüche stellen will, muss vorbauen – im doppelten Sinne
Die aktuelle Rechtsprechung zeigt: Der Maßstab für die erfolgreiche Durchsetzung von Entschädigungsansprüchen nach § 642 BGB liegt hoch. Für Ingenieur:innen heißt das: Prozesse und Dokumentationen müssen ebenso professionell geplant werden wie das Bauwerk selbst. Wer mit Weitsicht plant, konsequent dokumentiert und rechtzeitig kommuniziert, hat im Streitfall die besseren Karten – und muss das große Orchester nicht allein dirigieren.
Quelle: https://kurzlinks.de/sa6p